Mit halbleeren Akkus starteten wir in das große Loch namens Sommerferien. An Urlaub ist nicht zu denken. Die Ferien schreiten voran und die Kräfte lassen weiter nach.
Im Moment erleben wir wieder eine der schwierigen Phasen mit Karl. Er spürt unsere Erschöpfung und reagiert auf seine Weise darauf. Das Familienleben ist stark eingeschränkt. Gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge oder sonstige Freizeitaktivitäten sind aufgrund seiner zahlreichen Ausraster und Wutausbrüche kaum noch möglich.
Doch jetzt habe ich jetzt eine Stunde nur für mich. Quasi meinen ganz persönlichen Urlaub. Ich gehe zum Bach. Dort wo wir eigentlich mit den Kindern immer hingehen. Ich klettere einige Meter durch das steinige Bachbett und komme an meine Lieblingsstelle. Mehrere Schieferstufen bilden hier einen kleinen Wasserfall. Die Hälfte des Bachbettes liegt trocken. Ich setze mich auf eine der Stufen und atme tief durch. Durch die Bäume sieht man weder das Gewerbegebiet auf der einen, noch das Wohngebiet auf der anderen Seite des Ufers. Man könnte fast meinen, man befände sich an einem idyllisch abgelegen Ort irgendwo in den Bergen. Außer dem Rauschen des Baches hört man nichts. Ich suche mir ein paar herumliegende Schiefersteine und klopfe sie auf der Suche nach Ammoniten gegen das Bachbett. Ich finde zwar keinen Ammoniten, aber das Spalten der Schiefersteine hat schon etwas meditatives. Ich kann verstehen warum Karl das so gerne tut.
Und dann ist dieses beklemmende Gefühl wieder da. Mir schnürt sich die Kehle zu. So schön es hier auch ist, genießen kann ich es nicht mehr wirklich. Karl ist für ein paar Tage bei meiner Mutter. Sie hat extra ihren Urlaub abgebrochen um ihn abzuholen.
Nachdem wir eigentlich einen guten Start in den Tag hatten, hat er mir gestern ins Gesicht geschlagen. Dabei ist meine Brille zerbrochen. Seine Übergriffe dieser Art sind bei uns inzwischen schon an der Tagesordnung. Und auf eine unheimliche Art und Weise gewöhnt man sich auch irgendwie daran.
Und doch hat es mich diesmal schwerer getroffen. Ich habe in den letzten Tagen nochmal meine ganze Kraft zusammen genommen und sehr viel Geduld aufgebracht. Ich wollte diesen Teufelskreis, in den wir hineingeraten waren durchbrechen. Die Übergriffe wurden tatsächlich deutlich weniger und es wurde wieder möglich mit ihm Zähne zu putzen ohne dabei attackiert zu werden. In mir keimte die Hoffnung auf, dass wir es vielleicht doch zu Hause schaffen könnten. Da unsere Kräfte zunehmend schwinden, begleitet uns schon seit einiger Zeit das Thema Wohngruppe. Doch mir fällt es immer noch schwer mich damit anzufreunden.
So folgte auf die Hoffnung die Ernüchterung. Ich glaube am Schlimmsten war, dass ich es nicht habe kommen sehen.
Wenn dieses Kind doch bloß mit mir sprechen könnte!
Ich hatte das Gefühl, wie ein Kartenhaus in mich zusammenzufallen. Und dann standen wir wieder am Anfang. Die Erfolge der letzten Tage schienen sich in Luft aufzulösen. Ich fing an zu schimpfen und er fing an zu hauen.
Nun ist Karl bei seiner Oma und wir für ein paar Tage zu viert. Obwohl ich arbeiten muss und die beiden anderen Kinder aufgrund der Ferien den ganzen Tag zu Hause sind, fühlt es sich an wie Urlaub. Wir kriegen einen kurzen Einblick in das Leben einer “normalen” Familie. Als erstes haben wir die Alarmsensoren an der Wohnungstür und dem Wandschrank ausgeschaltet. Keines der Kinder wird die Wohnung in einem unbeobachteten Moment verlassen und es hat auch niemand die Absicht die Spülmaschinentabs zu essen. Die zahlreichen Schlösser, mit denen wir nach und nach diverse Schränke und Schubladen gesichert haben, stehen offen. Ich kann mir unbedarft einen Löffel aus der Besteckschublade holen oder den Kühlschrank öffnen ohne dafür eine Zahlenkombination einzugeben. Ich kann am Tisch sitzen und einfach Essen. Ohne Unterbrechung. Alles ist plötzlich so leicht.
Und gleichzeitig versetzt es mir einen Stich ins Herz, dass die Abwesenheit meines Kindes der Grund dafür ist. Es gibt uns allen einen Vorgeschmack, wie es wäre, wenn er in einer Wohngruppe untergebracht wäre. Einerseits diese Erleichterung. Und doch ist unsere Familie ohne Karl einfach nicht vollständig.
Ich sammel die vielen kleinen Schieferscheiben, die ich produziert hatte wieder auf und mache mich auf den Heimweg. Ich versuche die Gedanken an die Wohngruppe zu verdrängen und die nächsten Tage als das zu betrachten was sie sind: Ein kurzer Urlaub.
Hinweis: Die Namen unserer Kinder sind in diesem Beitrag geändert
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