Aus­flug mit Hin­der­nis­sen: Ein Aben­teu­er auf 8 Rädern

Es ist einer die­ser tris­ten Win­ter­ta­ge wäh­rend des zwei­ten Coro­na-Lock­downs. Weih­nach­ten ist vor­bei, die Luft ist raus. Der Schnee der letz­ten Tage ist auf ein paar grau-brau­ne Häuf­chen am Stra­ßen­rand geschrumpft. Statt­des­sen ein leich­ter und ste­ti­ger Nieselregen. 

Die Stim­mung kippt — Wir müs­sen raus

Es ist schon Nach­mit­tag. Wir hän­gen antriebs­los im Wohn­zim­mer ab. Die zwei­te Fol­ge Che­cker-Tobi ist vor­bei und die Stim­mung droht zu kip­pen. Es hilft alles nichts. Wir müs­sen noch ein­mal raus. Ich habe eine Idee. Anstatt die immer­glei­che Run­de durch den Ort zu lau­fen, könn­ten wir doch mal alle zusam­men den Weg durch den Wald aus­pro­bie­ren, den ich vor Kur­zem mit Karl ent­deckt hat­te. Das wür­de eine Wei­le dau­ern, aber dann wären wir bis zum Abend­essen beschäf­tigt. Die bei­den Gro­ßen wol­len ihre Rol­ler, die sie zu Weih­nach­ten bekom­men haben mit­neh­men. Hmm… eigent­lich kei­ne gute Idee. Oben am Fried­hof geht es über ein Stück Wie­se, dann Rund­weg im Wald, zurück über die Wie­se. Mit dem Kin­der­wa­gen noch irgend­wie mach­bar, aber nichts für Rol­ler. Also was machen wir jetzt? Wald? Rol­ler? Immer die­se Ent­schei­dun­gen. Wir schi­cken die Kin­der noch ein­mal aufs Klo und hel­fen ihnen in die unzäh­li­gen Lagen der Win­ter­mon­tur. Mar­le­ne fällt ein, dass sie doch nicht raus will und kriegt einen Schrei­an­fall. Anja geht mit Karl und Kin­der­wa­gen vor. Als Mar­le­ne und ich end­lich auch so weit sind, fährt Karl vor dem Haus mit dem Rol­ler auf und ab. Mist, wir hat­ten ver­ges­sen uns abzusprechen. 

Mei­ne ver­häng­nis­vol­le Idee

Karl will den Rol­ler nicht zurück­stel­len. Mar­le­ne will auch Rol­ler fah­ren. Und ich habe nun wirk­lich kei­ne Lust wie­der die immer glei­che Run­de durchs Wohn­ge­biet zu lau­fen. So kom­me ich zu mei­ner ver­häng­nis­vol­len Idee: Ich hat­te auf der Kar­te gese­hen, dass man im Wald auch anders abbie­gen konn­te und anstatt den Rund­weg zurück über die Wie­se auf einer Stra­ße Rich­tung Indus­trie­ge­biet raus­kom­men wür­de. Den Weg im Wald hat­te ich als rela­tiv gut befes­tigt in Erin­ne­rung. Ich wür­de die Rol­ler das Stück über die Wie­se tra­gen und den Rest könn­ten die Kin­der fah­ren. Der Weg bis zum Orts­rand ist ja schließ­lich auch nicht zu unter­schät­zen und so kom­men wir viel schnel­ler vor­an. Gesagt, getan. Wir kom­men rich­tig gut vor­an — ohne Abste­cher in frem­de Vor­gär­ten, ohne irgend­wel­che Kau­gum­mis von der Mau­er zu pulen und ohne den obli­ga­to­ri­schen Tritt in den Hun­de­hau­fen. Die­se Rol­ler sind schon prak­tisch. An der Wie­se ange­kom­men, neh­me ich die Rol­ler jeweils links und rechts und schie­be sie über das feuch­te Gras. Es klappt doch ganz gut. Es wird etwas schlam­mig. Aber doch, geht eigent­lich immer noch. Es zieht sich. Es wird noch schlam­mi­ger. Das Stück über die Wie­se ist doch etwas län­ger als ich es in Erin­ne­rung hat­te. Der Kin­der­wa­gen bleibt im Schlamm ste­cken. Ich lege die Rol­ler ab und hel­fe Anja mit dem Kin­der­wa­gen. Karl unter­nimmt in der Zwi­schen­zeit eini­ge ver­geb­li­che Fahr­ver­su­che im Schlamm. Ich neh­me ihm den Rol­ler wie­der ab. Er stöhnt genervt (das tut er in letz­ter Zeit beson­ders ger­ne). Es geht wei­ter. Die Kin­der wer­den lang­sam ungeduldig. 

Noch mehr Hin­der­nis­se: Von Schlamm­p­füt­zen und Schneeklumpen

Da ist end­lich der Weg, der in den Wald führt — über­zo­gen von einer dicken Schnee­de­cke. Also irgend­wie hat­te ich mir das anders vor­ge­stellt. Ich sage etwas hilf­los: “Oh, da wur­de wohl nicht geräumt.” Anja, inzwi­schen schon leicht genervt: “Was glaubst du denn? Dass wirk­lich jeder Wald­weg in der Pam­pa geräumt wird?” Also was machen wir jetzt? Umdre­hen durch die mat­schi­ge Wie­se oder das Stück durch den Schnee (so lang sah das auf der Kar­te ja nicht aus, bis zur Stra­ße). Wir tref­fen die nächs­te ver­häng­nis­vol­le Ent­schei­dung und neh­men den Weg durch den Schnee. Es war eine knö­chel­di­cke Schicht ange­tau­ter Schnee, durch­zo­gen von einer schlam­mi­gen Fahrspur. 

Auch die­ser Weg erweist sich als deut­lich län­ger, als ich ihn in Erin­ne­rung hat­te. Der feuch­te Schnee bleibt an den Rei­fen des Kin­der­wa­gens kle­ben, wie beim Rol­len einer Schnee­mann­ku­gel. Die Räder müs­sen alle paar Meter von den rie­si­gen Schnee­klum­pen, die sich um sie her­um bil­den befreit wer­den. Jas­min schläft tief und fest. Immer­hin. Ich tra­ge die bei­den Rol­ler inzwi­schen, weil sie sich im hohen Schnee nicht schie­ben las­sen. Karl und Mar­le­ne fra­gen genervt, wann sie end­lich wie­der Rol­ler fah­ren können. 

Letz­te Ret­tung: Gummibärchen

Karl schubst Mar­le­ne in den Schnee. Mar­le­ne kreischt. Die Rol­ler auf mei­nem Arm wer­den immer schwe­rer. Ich stel­le fest, dass mei­ne Schu­he undicht sind. Mei­ne Socken sau­gen sich mit kal­tem Was­ser voll. In mei­nem dicken Man­tel schwit­ze ich unter dem Gewicht der Rol­ler. Anja ist mit dem Kin­der­wa­gen weit zurück geblie­ben. Zeit für eine Gummibärchenpause. 

Ich las­se die Rol­ler ste­hen und hel­fe Anja mit dem Kin­der­wa­gen. Anjas Schu­he sind auch undicht. Jas­min schläft immer noch. Hin­ter uns strei­ten sich Karl und Mar­le­ne laut­stark. Der Stress­pe­gel steigt. Bei den Rol­lern ange­kom­men packen wir laut knis­ternd die Gum­mi­bär­chen aus. Das wirkt. Karl und Mar­le­ne hören auf zu strei­ten und ren­nen los. Vie­le Gum­mi­bär­chen sind nicht mehr in der Tüte. Wir müs­sen spar­sam sein, falls noch mehr Gum­mi­bär­chen­pau­sen nötig werden. 

Karls Schleu­der­tick und der Woll­bom­mel: Was sonst noch schief­ge­hen kann

Karl wühlt auf der Suche nach mehr Ess­ba­rem in der Kin­der­wa­gen­ta­sche und fin­det den Woll­bom­mel, den er in der Schu­le gebas­telt hat­te. Kei­ne Ahnung wie der da rein­ge­kom­men ist, aber doch eigent­lich ganz gut. Der Bom­mel hängt an einer lan­gen Schnur und Karl fängt an ihn zu schleu­dern. Karl liebt es Din­ge zu schleu­dern. Nach­dem die­ser Vor­lie­be zwei Lam­pen­schir­me zum Opfer gefal­len sind, haben wir nun ein gan­zes Sam­mel­su­ri­um von Bom­meln und Schwäm­men an Schnü­ren, die sich halb­wegs gefahr­los schleu­dern las­sen.  

Der Bom­mel scheint deut­lich span­nen­der zu sein als sei­ne Schwes­ter zu ärgern. Wun­der­bar. Es geht wei­ter. Anja und ich zie­hen gemein­sam mit jeweils einer Hand den Kin­der­wa­gen, in der ande­ren tra­gen wir einen Rol­ler. Karl läuft direkt vor unse­ren Füßen und schleu­dert sei­nen Bom­mel. Wir kom­men kaum vor­an. Der Bom­mel fällt beim Schleu­dern in den Schlamm. Karl blickt sich suchend um und tritt mit sei­nen schlamm­durch­tränk­ten Schu­hen auf den Bom­mel, der direkt hin­ter ihm auf dem Boden lag. Anja und ich, bei­de Hän­de voll, ver­su­chen ihm unge­dul­dig zu erklä­ren, dass er auf dem Bom­mel steht. Es dringt nicht durch. Ich ver­su­che den Rol­ler so abzu­le­gen, dass der Len­ker nicht im Schlamm badet um Karl zu hel­fen. In die­sem Moment sind unse­re Wor­te durch­ge­drun­gen, Karl hebt den Bom­mel auf und fängt gleich an, ihn wei­ter zu schleu­dern. Das Ding hat­te sich bis zur letz­ten Faser mit Schlamm voll­ge­so­gen und ich ste­he in der Schuss­li­nie. Mich erfasst ein Sprüh­re­gen. Klei­ne und gro­ße Matsch­trop­fen lan­den in mei­nem Gesicht, im Haar, auf der Bril­le und auf der Jacke. Das ist der Moment an dem es eigent­lich nicht mehr schlim­mer wer­den kann. Ich über­le­ge kurz ob ich jetzt lachen oder wei­nen soll. Dann muss ich lachen. Anja lacht auch. 

Plötz­lich ist alles leichter

Nach­dem wir den Bom­mel kon­fis­ziert hat­ten geht es wei­ter. Karl und Mar­le­ne spie­len ihr Schubs- und Kreisch-Spiel. Halb so wild. Ich ver­sin­ke bis zu den Knö­cheln in einer Schlamm­p­füt­ze. Auch egal. Wir kämp­fen uns aben­teu­er­lus­tig wei­ter durch das Schnee- und Schlamm­ge­misch. Wir brau­chen alle Gum­mi­bär­chen auf. Und dann sto­ßen wir schließ­lich über­glück­lich auf die besag­te Stra­ße. Stra­ße trifft es viel­leicht nicht ganz: Rol­ler fah­ren kann man hier nicht, aber immer­hin ein geräum­ter Weg. 

Kurz vor Ein­bruch der Dun­kel­heit errei­chen wir end­lich die ers­te beleuch­te­te Stra­ße im Ort. Hier erwei­sen sich die Rol­ler wie­der als prak­tisch. Mar­le­ne will nicht mehr lau­fen. Ich schie­be sie auf dem Rol­ler. Kurz bevor wir zu Hau­se sind wacht Jas­min auf. Sie hat den gan­zen Weg ver­schla­fen und trinkt gut gelaunt ihre Milch. Zuhau­se ste­cken wir die Kin­der erst­mal in die Bade­wan­ne. Mar­le­ne will die­sen Weg mor­gen gleich wie­der lau­fen. Mit Rol­ler ver­steht sich. 

Nach­wort:

Die­se Geschich­te hat sich letz­tes Jahr, vor Karls schwe­rer Kri­se ereig­net. Karl war von klein auf ein “Out­door-Kind”. In der Woh­nung ist er oft ange­spannt und schnell gestresst. Wan­de­run­gen und Spa­zier­gän­ge waren also ein fes­ter Bestand­teil unse­res All­tags — und das bei so ziem­lich jedem Wet­ter. Obwohl die meis­ten die­ser Aus­flü­ge natür­lich nicht ganz so chao­tisch ver­lau­fen sind, sind es doch die­se gemein­sa­men “Aben­teu­er” über die man spä­ter zusam­men lacht und an die man sich noch lan­ge erinnert. 

Nach Karls Regres­si­on waren ein gemein­sa­mes Fami­li­en­le­ben und auch sol­che Aus­flü­ge lan­ge kaum mög­lich. Wir bli­cken auf ein Jahr im Aus­nah­me­zu­stand zurück. Nun ver­su­chen wir uns lang­sam die­sen Teil von unse­rem Fami­li­en­le­ben zurück zu erobern. Inzwi­schen ist es wie­der mög­lich mit Karl allei­ne wan­dern zu gehen. Vor Kur­zem konn­ten wir seit Lan­gem unse­ren ers­ten gemein­sa­men Aus­flug zu fünft wagen. Dies­mal natür­lich prä­zi­se durch­ge­plant: Der Weg wur­de vor­her abge­lau­fen, die benö­tig­te Zeit abge­schätzt, alle mög­li­chen Hin­der­nis­se aus­ge­macht, aus­rei­chend Gum­mi­bär­chen ein­ge­packt und alles was Räder hat­te blieb dies­mal zu Hause.

Hin­weis: Die Namen unse­rer Kin­der sind in die­sem Bei­trag geändert 

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Ein Kommentar

  1. Lie­be Anne,
    wie­der eine Geschich­te, die zeigt, wie wie Ihr den schwie­ri­gen All­tag mit unglaub­lich viel Lie­be, Umsicht und Humor meis­tert. Von außen kann man nur ahnen, wie viel Kraft das alles kos­tet… Aber beim Lesen spürt man auch, wie unglaub­lich viel Ihr für alle drei Kin­der leis­tet. Das ist für jede und jeden der drei ein gro­ßes Geschenk! Mach (und schreib) bit­te so weiter!

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