Wie wir lern­ten los­zu­las­sen (oder auch nicht)

Die Bilanz der Som­mer­fe­ri­en ist ernüch­ternd. Kaput­te Bril­le, kaput­tes Han­dy, abge­ris­se­ne Tape­te und unzäh­li­ge zer­ris­se­ne T‑Shirts. Ganz zu schwei­gen von den zahl­rei­chen blau­en Fle­cken, die mei­ne Arme und Schien­bei­ne schmü­cken. Inzwi­schen ist auch die zwei­te Leuch­te unse­rer Wohn­zim­mer­lam­pe auf dem Boden zer­schellt. Weh­mü­tig erin­nern wir uns dar­an, wie lan­ge wir nach einer pas­sen­den Decken­leuch­te zu unse­rer inzwi­schen eben­falls zer­bro­che­nen Steh­lam­pe gesucht hat­ten. Drei der ursprüng­lich fünf kugel­run­den glä­ser­nen Lam­pen­schir­me sind noch übrig. Wir ent­schei­den uns etwas Sta­bi­le­res, ohne Glas zu kau­fen bevor der nächs­te Lam­pen­schirm auf irgend­ei­nem Kopf landet. 

Manch­mal ist man sich über sein eige­nes Pro­blem noch nicht ein­mal im Kla­ren, wenn Karl schon genau weiß wel­che Knöp­fe er drü­cken muss um einen auf die Pal­me zu bringen ” 

Ein Betreu­er von Karl hat­te mal gesagt, dass er wie ein immenser Ver­stär­ker auf die Gefühls­la­ge sei­nes Gegen­über reagiert. Und im Prin­zip hat er recht. Wenn man Karl locker, ent­spannt und in sich ruhend gegen­über tritt, ist er eben­falls ent­spannt und sehr auf­ge­schlos­sen. Auf der ande­ren Sei­te hat Karl ein Talent dafür zu spü­ren, wenn man in irgend­ei­ner Wei­se Stress hat. Sei es durch Über­mü­dung oder irgend­wel­che belas­ten­de Gedan­ken, die einen umtrei­ben. Manch­mal ist man sich über sein eige­nes Pro­blem viel­leicht noch nicht mal im Kla­ren, wenn Karl schon genau weiß wel­che Knöp­fe er drü­cken muss um einen auf die Pal­me zu brin­gen. Und auch wenn ich ihm nicht unter­stel­len möch­te, dass er es gut oder in irgend­ei­ner Wei­se ange­nehm fin­det, eine nega­ti­ve Reak­ti­on her­vor­zu­ru­fen, ist es doch irgend­wie genau das, was ihn ver­stärkt. Sobald man sich dazu hin­rei­ßen lässt, beson­ders emo­tio­nal auf eine sei­ner Pro­vo­ka­tio­nen zu reagie­ren, hat man verloren. 

Doch so leicht las­sen sich die eige­nen Gefüh­le lei­der nicht immer steuern ” 

So gewöhnt man sich im Lau­fe der Zeit los­zu­las­sen. Mit einem Schul­ter­zu­cken regis­triert man das zer­pflück­te Memo­ry­spiel, dass man zu sei­nem letz­ten Geburts­tag müh­sam selbst zusam­men­ge­stellt hat oder die mit einem Zahn­sto­cher per­fo­rier­te Mehl­pa­ckung inklu­si­ve des damit ein­her­ge­hen­den Putz­auf­wands. Ver­mei­den las­sen sich sol­che Vor­fäl­le in der Regel nicht. Aber wenn man ent­spannt genug ist, lässt sich die Fre­quenz ihres Auf­tre­tens deut­lich redu­zie­ren. Vor ein paar Mona­ten noch haben wir uns selbst für unse­re inzwi­schen erwor­be­ne Resi­li­enz auf die Schul­tern geklopft. Doch so leicht las­sen sich die eige­nen Gefüh­le lei­der nicht immer steu­ern. Beson­ders in den Feri­en, wenn wich­ti­ge Tei­le der All­tags­struk­tur feh­len, lie­gen die Ner­ven doch schnell mal blank. Dann hat man irgend­wie doch an der Wohn­zim­mer­lam­pe gehan­gen. Und wie soll ich ohne Bril­le ver­dammt noch­mal Auto fah­ren? Und wäh­rend ich noch immer ver­su­che die­ses blö­de Mehl aus den letz­ten Ecken der Schub­la­de her­aus­zu­rei­ben, sitzt Karl schon auf mei­nem Bett und arbei­tet die Toma­ten­sauce an sei­nen Mund­win­keln in mei­nen frisch­ge­wa­sche­nen Kopf­kis­sen­be­zug ein. Mir platzt der Kra­gen. Ich schimp­fe. Karl haut. Schon wie­der ein blau­er Fleck. 

Im Grun­de woll­ten wir ein­fach nur, dass Karl genau­so lan­ge in die Schu­le gehen darf, wie sei­ne Klas­sen­ka­me­ra­den und nicht zu Hau­se blei­ben muss, wenn sei­ne Schul­be­glei­tung krank wird ”

Feri­en mit Karl sind nie ein­fach, doch die­ses Jahr ist es anders.  Karl ist ein Kind, dass irgend­wie in kein Ras­ter zu pas­sen scheint und sich den vor­ge­se­he­nen Kate­go­rien der Jugend- oder Ein­glie­de­rungs­hil­fe ent­zieht. Das führt vor allem dazu, dass sich erst­mal nie­mand zustän­dig fühlt. Die letz­ten zwei Jah­re waren ein ein­zi­ger Kampf. Im Grun­de woll­ten wir ein­fach nur, dass Karl genau­so lan­ge in die Schu­le gehen darf, wie sei­ne Klas­sen­ka­me­ra­den und nicht zu Hau­se blei­ben muss, wenn sei­ne Schul­be­glei­tung krank wird. Abge­se­hen davon, dass sol­che Wün­sche bei einem Kind, das 1:1 beauf­sich­tigt wer­den muss, natür­lich teu­er sind, schien ein Fall, wie der von Karl in den unzäh­li­gen Pro­zes­sen und Vor­schrif­ten der Ver­wal­tung nicht vor­ge­se­hen zu sein. Das Ergeb­nis war ein gewal­ti­ges Orga-Cha­os aus zahl­rei­chen Fli­cken­tep­pich-Lösun­gen. Zwi­schen­zeit­lich hat­ten wir den Über­blick ver­lo­ren, an wel­chem Tag Karl wie lan­ge in der Schu­le bleibt und Karls Schul­be­glei­tung war regel­mä­ßig damit beschäf­tigt, ihren genau­en Arbeits­um­fang her­aus­zu­fin­den.  Der Wunsch nach sta­bi­len All­tags­struk­tu­ren, die Karl und eigent­lich wir alle so drin­gend gebraucht hät­ten, erweist sich als schwer umsetzbar. 

Es ist, als wür­den wir uns in Zeit­lu­pe beim eige­nen Schei­tern zusehen ” 

Nach zwei Jah­ren ist der Frust groß und die ver­blei­ben­den Kräf­te klein.  Karl spürt das und zieht alle Regis­ter. Die Eska­la­ti­on nimmt ihren Lauf. Karls “Aktio­nen” neh­men zu, unse­re Geduld nimmt ab. Das wie­der­um ver­stärkt Karls Ver­hal­ten, was wie­der­um unse­re Über­las­tung ver­stärkt. Da geht sie dahin, die Resi­li­enz. Die Feri­en brin­gen das Fass zum über­lau­fen. Das Schul­ter­zu­cken ist ver­lernt. Mit jedem Mal Schimp­fen legen wir den Grund­stein für das nächs­te Mal­heur. Es ist, als wür­den wir uns in Zeit­lu­pe beim eige­nen Schei­tern zuse­hen.  Am Ende ist jeder Tag ein Aus­nah­me­zu­stand. Wir sind alle unglück­lich. Karl ist vor allem wütend. Fast täg­lich geht irgend­et­was zu Bruch. Selbst die elek­tri­sche Mie­le-Spiel­zeug­wasch­ma­schi­ne, die mit dem oran­ge­nen Knopf (ganz wich­tig), die Karl sich so lan­ge gewünscht hat­te, ist einem Wut­an­fall zum Opfer gefal­len.  Er ist inzwi­schen so groß, dass wir ihm nicht mehr viel ent­ge­gen­set­zen können. 

Wir wer­den noch ein­mal Los­las­sen müssen ” 

Uns wird (schon wie­der) nahe­ge­legt Karl in einem Heim unter­zu­brin­gen.  Ich bin auch wütend. Auf Karl, auf mich selbst und dar­auf, dass es so viel ein­fa­cher ist eine Heim­un­ter­brin­gung finan­ziert zu bekom­men, als eine aus­rei­chen­de Beschu­lung und Betreu­ung zu Hau­se. Nach unse­rer Erfah­rung mit dem letz­ten Kli­nik­auf­ent­halt, der mehr Scha­den ange­rich­tet hat, als dass er genutzt hät­te, habe ich gro­ße Zwei­fel, dass ein Heim der rich­ti­ge Platz für Karl ist. Der Gedan­ke, ihn abzu­ge­ben und was dabei alles schief­ge­hen könn­te, ist kaum aus­zu­hal­ten. Doch gleich­zei­tig müs­sen wir uns schmerz­haft ein­ge­ste­hen, dass wir mitt­ler­wei­le selbst in einem Zustand sind, in dem wir weder uns, noch Karl in irgend­ei­ner Wei­se guttun.

Wir wer­den noch ein­mal Los­las­sen müssen. 

Hin­weis: Die Namen unse­rer Kin­der sind in die­sem Bei­trag geändert 

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