Wenn die Wut kommt: Wie unser Kind zum Sys­tem­spren­ger wurde

Ich weiß gar­nicht mehr was der Aus­lö­ser war. Karl ist gera­de wie ein Pul­ver­fass. Ein klei­ner Fun­ke genügt und er explo­diert. Zwei Stun­den nach­dem wir ges­tern zu Bett gegan­gen sind, ist er auf­ge­wacht und hat gewü­tet. Wir konn­ten ihn irgend­wann beru­hi­gen, aber ein­ge­schla­fen ist er nicht mehr. Ich auch nicht. Es ist inzwi­schen Nach­mit­tag. Ich bin müde und gereizt. Er wahr­schein­lich auch. Ein Wut­aus­bruch reiht sich an den Nächs­ten. Es gibt kaum Pau­sen. Er fängt an zu wei­nen, dann zu schrei­en. Er rennt zum Ess­tisch. Ich ahne, was er vor hat und ren­ne hin­ter­her. Doch da kommt mir der Tel­ler schon ent­ge­gen und schlägt neben mir auf. Eine Scher­be fliegt kanpp an mei­nem Kopf vor­bei. Der Rest ver­teilt sich groß­flä­chig im Wohn­zim­mer und der angren­zen­den Küche. 

Immer wie­der rennt er durch die Scherben

Ich wate vor­sich­tig durch die Scher­ben und ver­su­che zu ihm zu gelan­gen. Er steht inzwi­schen in der Küche und hält die Kaf­fee­ma­schi­ne wurf­be­reit in den Hän­den. Ich kann ihn über­zeu­gen, sie zurück zu stel­len. Dann prescht er an mir vor­bei, rennt mit nicht mehr als sei­nen Strümp­fen an den Füßen durch die Scher­ben und dann wei­ter in sein Zim­mer. Dort schmeißt er sich gegen die Fens­ter­schei­be. Ich suche mir Haus­schu­he und ren­ne hin­ter­her. Ich ver­su­che ihn zu beru­hi­gen. Er prescht wie­der an mir vor­bei und rennt durch die Scher­ben zurück in die Küche. Dort reißt er die gro­ße Schub­la­de mit den Vor­rä­ten bis zum Anschlag auf und und knallt sie wie­der zu. Schon etwas weni­ger gedul­dig ver­su­che ich ihn dazu zu brin­gen von der Schub­la­de abzu­las­sen. Er will wie­der an mir vor­bei. Ich stel­le mich in den Weg. Ich will nicht, dass er schon wie­der durch die Scher­ben läuft. 

Über­all blaue Fle­cken: Er ist wütend und ich sein Ventil

Die Wut ent­lädt sich nun an mir. Er schlägt mit vol­ler Kraft nach mir und krallt sich dann mit bei­den Hän­den in mei­ne Arme. Mir schie­ßen die Trä­nen in die Augen. Wäh­rend ich ver­su­che mich aus sei­nem Griff zu lösen, tritt er gegen mein Schien­bein. Mir platzt der Kra­gen. Ich schreie ihn an, dass er sich beru­hi­gen soll. Das macht es natür­lich nicht bes­ser. Er lässt mei­ne Arme los und ver­sucht nach mei­nem Haar zu grei­fen. Das Haar erwischt er nicht, aber hin­ter­lässt einen Krat­zer auf mei­ner Wan­ge. Ich muss tief durch­at­men. Ich konn­te mich in der letz­ten Zeit oft genug nicht mehr allei­ne befrei­en, wenn Karl mich an den Haa­ren gepackt hat­te. Das weiß er auch. Er drückt sich an mir vor­bei und rennt erneut durch die Scher­ben in sein Zim­mer. Ich höre, wie er sich dort gegen das Fens­ter schmeißt. Es geht noch ein paar Mal hin und her. In der Küche fliegt noch ein Glas. Er läuft durch die Scher­ben. Er atta­ckiert mich. Ich kom­me gar­nicht dazu die Scher­ben auf­zu­keh­ren. Mei­ne Unter­ar­me sind über­sät mit blau­en Fle­cken. Auf der lin­ken Sei­te sind sie zusam­men mit denen der letz­ten Tage zu einer gro­ßen blau-grü­nen Flä­che ver­schmol­zen. Resi­gniert rufe ich die Polizei. 

Die Poli­zei kommt — Inzwi­schen trau­ri­ge Routine

Die Poli­zei kommt und es beginnt eine wohl­be­kann­te Rou­ti­ne: Der von der Poli­zei ver­stän­dig­te Ret­tungs­wa­gen fährt Karl in die zustän­di­ge Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie. Die zustän­di­ge Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie ist für Kin­der wie Karl nicht aus­ge­legt. Das wis­sen wir inzwi­schen schon. Die Kli­nik leis­tet “Regel­ver­sor­gung”, Karl braucht “Son­der­ver­sor­gung”. Die nächs­te Kli­nik, die ihn ver­sor­gen KÖNNTE, ist wie­der­um nicht zustän­dig und hat auch gera­de kei­nen Platz. Außer­dem hat er sich inzwi­schen wie­der beru­higt. Dann besteht auch kei­ne Auf­nah­me­in­di­ka­ti­on mehr. Wir wer­den noch dar­auf hin­ge­wie­sen, dass in unse­rem Fall eigent­lich das Jugend­amt für eine Lösung sor­gen müss­te und wie­der nach Hau­se geschickt. 

Das Jugend­amt fin­det lei­der kei­ne Lösung. Es fin­det sich kei­ne Ein­rich­tung, die unse­ren Sohn in Obhut neh­men kann (oder will). Die Suche nach einer Wohn­grup­pe gestal­tet sich eben­falls als schwie­rig. Bis­her 45 Absa­gen. Als ich das das Jugend­amt bei einem der letz­ten Male gefragt hat­te, was wir denn tun sol­len wenn es das nächs­te Mal eska­liert, war die Ant­wort, dass die Kin­der-und Jugend­psych­ia­trie in die­sem Fall zustän­dig ist. Ich frag­te, was wir tun sol­len wenn wir wie­der nach Hau­se geschickt wer­den? Ant­wort: Die Poli­zei rufen.
Inner­lich schla­ge ich die Hän­de über dem Kopf zusammen. 

Unsicht­bar und kei­ne Per­spek­ti­ve: Es ist, als wür­den Kin­der wie Karl nicht existieren

Karl hat eine schwe­re Form von Autis­mus. Für ihn sind Struk­tur, Sta­bi­li­tät und Ver­läss­lich­keit essen­ziel. Doch in Karls Leben gibt es vor allem eine Kon­stan­te: Er fällt durch alle Ras­ter. Es ist, als wür­den Kin­der wie er nicht exis­tie­ren. Es man­gelt an Ange­bo­ten und noch viel mehr an Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten, die sich auf Karl anwen­den las­sen. Das hat zur Fol­ge, dass unser All­tag aus müh­sam aus­ge­han­del­ten und doch insta­bi­len Son­der­kon­struk­ten besteht. Seit Jah­ren fehlt es an Sta­bi­li­tät, Ver­läss­lich­keit und Pla­nungs­si­cher­heit. Wir füh­len uns aus­ge­laugt und auch an Karl geht das nicht spur­los vor­bei. Sein Zustand hat sich zuneh­mend ver­schlech­tert. Unse­rer auch. Frü­her ist es uns pha­sen­wei­se mit viel Ein­satz gelun­gen ihn zu sta­bi­li­sie­ren. So lan­ge, bis uns wie­der die Kraft aus­ging. Doch inzwi­schen gelingt uns das nicht mehr. Karl geht es schlecht. Und dass es ihm schlecht geht, äußert sich in Wut­aus­brü­chen. Er hat sich in sol­chen Momen­ten abso­lut nicht mehr im Griff und ist inzwi­schen groß genug um sich und ande­re ernst­haft in Gefahr zu brin­gen. Hilf­los wur­den ihm immer neue Medi­ka­men­te ver­schrie­ben. Kein gro­ßer Durch­bruch, aber vie­le Nebenwirkungen. 

Das kann kein Mensch mehr verantworten

Ich habe Angst vor Karl. Angst um Karl. Angst um sei­ne Schwes­tern, die auch schon Ziel sei­ner Atta­cken wur­den. Und ich habe auch Angst, dass mir selbst irgend­wann die Siche­run­gen durch­bren­nen. Viel zu oft schaf­fe ich es nicht mehr sou­ve­rän zu reagie­ren. Das trägt wie­der­um dazu bei, dass es Karl nicht gut geht. Mir bricht es das Herz mit anzu­se­hen, wie ein Kind, das frü­her immer ein Lächeln auf den Lip­pen hat­te, dem einst ein “gutes Poten­ti­al” attes­tiert wur­de, zuneh­mend jeg­li­che Per­spek­ti­ve ver­liert. Der Gedan­ke, mein Kind mit gera­de ein­mal neun Jah­ren abzu­ge­ben (bezie­hungs­wei­se das zu wol­len) ist furcht­bar. Aber was bei uns pas­siert, kann kein Mensch mehr ver­ant­wor­ten. Und wie­der fällt Karl durch alle Ras­ter. Schon wie­der gibt es kei­ne Lösung.
Nur dass es jetzt nicht mehr “nur” um Chan­cen und Teil­ha­be geht. Wir ban­gen täg­lich um unse­re Sicher­heit

Hin­weis: Die Namen unse­rer Kin­der sind in die­sem Bei­trag geändert

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Ein Kommentar

  1. Lie­be Anne und Anja. I‘m so sor­ry to hear that you are expe­ri­en­cing so many pro­blems with Karl. I‘m spe­cial­ly sor­ry to hear that the lovely Karl is not get­ting the atten­ti­on from the sys­tem that he deser­ves. Poor guy. I wish i would live clo­ser to you to be of some kind of help. You all are in my heart. Be strong!! Loves

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